II. Die zwei fahrenden Seelen

                (Zwei Stiere in Venedig)

 

 

 

     Es war an einem Montag, 8 Uhr in der Früh. Das war wie ein Termin, um den sich nun alles drehte, die Welt und ein flehendes Herz. Es war dieser spontan entschiedene Tag, den es kein zweites Mal im Leben gibt, weil die Sterne nur einmal so standen. Zwei fahrende Seelen auf dem Weg nach Venedig..


     Moritz hatte bereits sein Bündel sorgfältig gepackt und verschnürt und wartete nur noch ungeduldig auf das Signal, es könne losgehen. Er schien ein wenig angespannt zu sein, denn es ging ihm allgemein gegen den Strich, warten zu müssen. Doch was blieb ihm anderes übrig. Katja, die sich noch auf der Rückreise nach einem geplanten vorabendlichen Besuch eines Konzertes nahe der Residenz in Dresden befand, sich dann aber doch lieber in Geselligkeit bei Wein amüsierte, erreichte den Bahnhof in Jena etwas später als abgemacht.

 

     Doch der Vorfreude auf die anstehende Woche in Venedig tat das keinen Abbruch. 1,6 Dekaden in Stunden gemessen sollten sie nun unterwegs sein. Mit dem Zug nach Hermsdorf-Klosterlausnitz, von dort aus auf der Autobahn über München, Innsbruck, Bozen, Trento in die Stadt zwischen Land und Meer, zwischen Europa und Osten, halb real und halb Fantasie - Venezia..

 

     Da zogen nun zwei Erwartungshaltungen gemeinsam los, ein Venedig zu sehen, worunter sich die eine Seite noch gar nichts vorstellen konnte, träumte und die andere Seite, die ebenso träumte, mit einem angehefteten Bild beseelt war, welches auf lexika-lischem Wissen basierte. Zwei Träumer also, die sich zuvor nicht kannten, jetzt als gemeinsame Idee im Herbst nach Süden ziehend. Zwei verirrte Stiere, die vergessen haben, daß sie keine Vögel sind. Die sich selbst scheinbar vergaßen und nun die Europa-Straße von Nord nach Süd durch den Okzident im Sing-Sang ihrer Lieder neu bepflasterten.

 

 

     Es war spät in der Nacht. Irgendwo bei Innsbruck in Tirol. Ein Rasthof. Ein Kaffee. Ein Kuß. Ein sich Halten. Dann eine Melodie auf der Mundharmonika. Schweigen. Gedanken. Stille.

 

     Nur von der Autostraße hörte man das haltlose Vorbeirauschen der Trucks, die bis morgen mittag ihre Frachten irgendwo im Süden an die Häfen bringen mußten.

 

     Ein Parkplatz. Eine Tankstation. Vereinzelte späte Urlauber, die ihre Butterbrote auspackten oder sich sonstwie mit ihren Thermoskannen als Reisende bemerkbar machten.

 

    Verstohlene Blicke. Resignation. Dann wieder Entschlossenheit. Ein stetiger Wechsel aus Gedanken, die sich um den anderen, um Venedig, um den Sinn und das Weiterkommen, um sich selbst drehten.

 

     Als sich Moritz schon damit abfand, die Nacht auf diesen unseligen Holzbänken zu verbringen, dort zu schlafen und dann erst am Morgen wieder frierend und mit resultierenden Gliederschmerzen den Tramp nach Venedig zu vollenden, war Katja noch immer engagiert, eine Mitfahrgelegenheit zu organisieren - nachts, zwischen elf und zwölf auf einem scheiß gott-verdammten, kalten, grauen Parkplatz, irgendwo bei Innsbruck in Tirol.

     „Hey!“, meinte sie plötzlich, wie sie nach einem der Versuche, einen Fahrer zu umwerben, auf ihr Gepäck zusteuerte, „der nimmt uns bis Venedig mit!“.

„Verarschen kann ich mich alleene!“, schmollte Moritz und drehte sich, wieder seinen Kopf auf die verschränkten Arme legend, zur Bank zurück.

„Der nimmt uns wirklich mit.“, bekräftigte sie ihre Aussage und packte schmunzelnd ihr Gepäck zusammen.

 

     Moritz glaubte sie schon so gut zu kennen, zu wissen, daß, wenn es tatsächlich so wäre, sie es niemals in diesem kühlen Ton gesagt hätte. Katja schmunzelte über seine sture Art nun noch mehr, während sie ruhig gestikulierend die Arme öffnete, ihren Kopf zum Nicken ansetzte und wiederholte: „Der nimmt uns wirklich mit!“ Nun begann Moritz aufgrund ihrer Hartnäckigkeit an seiner Überzeugung zu zweifeln. Hat sie doch recht? In einer Tour? Bis nach Venedig? Das wäre zu schön um wahr zu sein.. Und als dann ein Mann mit slawischem Akzent freundlich lächelnd auf die beiden zukam und fragte, ob sie bereit seien, war Moritz der einzige, der noch nicht bereit war. Hektisch kramte er sein loses Zeug zusammen und stopfte es sich in die Taschen. „Hey, warum drückst du dich so banal aus?“, blökte er jauchzend-erregt Katja an, „Der nimmt uns ja wirklich mit!“ „Hey, das hab ich doch gesagt!“, erwiderte sie in kühler Gelassenheit. Es war ihre Art und Moritz hatte sich getäuscht..

 

     Die Fahrt war für ihn geprägt von einer Intensität der Gefühle. Dieses Mädchen, die er bis vor zwei Wochen noch gar nicht real kannte, die plötzlich da war und ihm nun vertraute Nähe rüberbrachte, als gehörte sie schon immer dazu, hielt ihn fest umschlungen, selbstfühlend diesen Glücksfall zu schätzen.

 

     Ein Kuß, so intensiv und verzaubernd, der über 120 (in Worten: einhundertundzwanzig) Kilometer andauerte. Auf so einer langen Distanz hatten sich noch keiner von beiden mit irgendwem geküßt! Und dann war da noch dieses Lied, das plötzlich wie eine Filmmusik in diese bedeutenden Szene einklang. Die Melodie hatte etwas Magisches, etwas Bündisches, etwas Anziehendes, etwas Besonderes..

Der Fahrer stellte sich mit Georg vor, und wie es die Ironie des Schicksals verlangt, kam er namensgleich auch aus Georgien und irgendwo wollte er nun hin, um seine Schwester zu besuchen.

 

     Es ist interessant, was man für Geschichten hören kann, wenn man auf so langen Strecken in fremden Autos mitfährt. Und er erzählte und erzählte..

 

     Während Katja erschöpft und müde die verbleibenden zweihundert Kilometer bis Venedig schlief, unterhielt Moritz sich mit der neuen Bekanntschaft. Er gönnte Katja den Schlaf. Schließlich solle sie sich nur wohl fühlen. Jeder spätere Gedanke an Venedig müßte unweigerlich auf ihn zurückfallen. Er wollte erreichen, daß sie fasziniert bliebe, egal, was sich auch einmal entwickeln würde.

     „Ihr solltet besser nicht außerhalb Venedigs zelten!“, gab Georg als Ratschlag. Das war ja das eigentliche Vorhaben der beiden gewesen. Nun ließ Moritz sich eines Besseren belehren. Um Venedig herum sei einzig und allein Industriegebiet oder Frachthafen.

 

     Nur vereinzelt fände man mal eine Baumgruppe von zwei, drei Bäumen, zwischen der man ein Notlager aufbauen könne, aber: „Auf die Dauer ist das nischt!“ Dagegen wisse er eine Gasse in Venedig, wo die Hotelpreise relativ akzeptabel wären. Er würde ihnen den Weg zeigen, wenn sie da wären.

 

     Katja erfuhr noch nichts von alledem. Sie schlief und war fest von einem Urlaub im Zelt überzeugt. Vielleicht träumte sie von den Sternen, von Venedig, von diesem Lied..

 

     Sie sah so reizend und anmutig aus, wie sie da an seiner Schulter liegend döste, und Moritz strich ihr behutsam über die Wange, kostete die Wärme auf ihrer Haut und den Duft in ihrem Haar.

 

 

     Man kann nicht sagen, ob er, geschweige denn sie es zu dem Zeitpunkt schon ahnten, daß er sich vermutlich über beide Ohren in sie verknallt hatte. Zumindest aber wurde ihm klar, daß er vernarrt war und nichts dagegen tun konnte..

 

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Verweise

 

 

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des kultivierten Landtreichers

 

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gegen Spießertum und Langeweile

 

 

 

 

 

Auf grauem Asphalt über die verschlungenen Bergstraßen der Pyrenäen nach Euskal Herrira, auf schmalen Wegen nebliger Sicht durch die Finnmark bis hoch ans Eismeer, nachts auf den staubigen Fernstraßen von Innsbruck über Südtirol nach Italien - ich bin sie getrampt, die 1000 Meilen von der Heimat entfernt -den Weg als Ziel- als ein 'König der Landstraße' !

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Der Bart der Fahrt

(Gedanken in der Fremde, am Feuer,

unter fernen Sternen)

 

  • Wo gestern von uns noch keiner stand, werde ich heute schon stehen. Morgen sollt Ihr Euch erinnern!
  • "Wissen Sie, andere leisten sich ein Automobil, eine Segeljacht, ein schickes Haus... Ich leiste mir die Freiheit und einen wunderschönen Tag. Das gibt es aber auch nicht umsonst!"
  • Habe mich gestern zu einem Amerikaner und einen Deutschen im Lokal an den Tisch gesetzt. Sie sprachen ueber die Vorzüge der jew. Nation des Gegenübers. Der eine liebte gönnerisch Deutschland, der andere darauf die USA. Ich sagte abschliessend: "Und ich liebe die Freiheit!"
  • Ich habe Augen&Ohren, ich habe Appetit, ich habe meinen Verstand. Das ist soviel! Das sind entscheidende Grundlagen des zufriedenen Lebens. Prozentual gesehen der größte Anteil dessen. Wie klein ist dann im Vergleich die Jagd nach all den bürgerlichen Reichtümern noch?
  • Ihr Deutschen dürft den Hitler nicht nur vom Namen her verdrängen. Den müßt ihr auch innerlich bekämpfen!
  • Habe heute auf einer Cafèterasse ein 3-4jähriges Mædel gesehen, die hoch empört von einer Statue aus zu ihren Eltern schritt und schimpfte, dass die Statue ein böser Mann sei und ganz viele Menschen getötet habe. (Das war eine Woche nach dem Anschlag in Oslo.)
  • Die "zivilisierte" Welt erlebt dann ihren neuen Fortschritt, wenn sie sich traut, wieder einen Schritt zurueck zu treten. (Luxus fuer alle, anstatt Fortschritt fuer Zivilisierte!)

Auf Diamanten wächst nichts.

Auf Mist aber wachsen Blumen!