III. Das Labyrinth Venetia et Histria

                      (Zwei Stiere in Venedig)

 

 

 

     Es war Punkt fünf Uhr. Die Sonne berührte vorsichtig die Konturen des Horizontes oder besser ausgedrückt: quälte sich durch die Dunkelheit der vergehenden Nacht. Weit vor ihnen leuchtete das Licht einer Stadt, das Licht eines schwer beschäftigten Hafens, das Licht Venedigs..

 

     „Hey du, wach auf, da vorn ist Venedig!“, versuchte Moritz seine Begleitung nun sanft in die Wange kneifend aus ihrem Schlummer zu entführen. Die ganze innere Aufregung, mit der er die letzten Kilometer geduldig ausharren mußte, blieben ihr erspart. Sie öffnete nur ihre Augen, und wie im Übergang vom Schlaf zu einem Traum sah sie vor sich Venedig glänzen. Zum ersten Mal in ihrem Leben..

 

     Auf der ‚Straße der Freiheit’, die auf Stahlstreben gestützt mitten durch das Meer führte kamen sie dieser Stadt mit ihren tausend Kanälen und Gondeln näher. Und je deutlicher sich diese ‚Welt der Wunder’ dem Augenschein präsentierte, um so mehr angetan wirkte Katja’s Empfinden. Sie strahlte einfach nur noch über beide Ohren. Georg hielt auf einem Parkplatz, dem ‚Piazzale Roma’, half ihnen noch das Gepäck aus dem Wagen zu hieven, zeigte Moritz den Weg zu den preiswerten Hotels und verabschiedete sich nicht ohne noch eine Möglichkeit des Wiedersehens zu arrangieren. Man tauschte die Telefonnummern aus und hielt sich kameradschaftlich in den Armen.

 

     Dann verschwand er wieder, wie er gekommen war und ließ die beiden in Venedig stehen.

 

     Fremd in einer neuen Stadt, einer Stadt die anders war, als alles bisher Gesehene. Faszinierend an ihren Farben und Gerüchen, den legeren Rhythmen des Lebens, seines irrealen Aussehens - Venedig, in der Tat etwas Besonderes, etwas ganz Spezielles unter allen Städten der Welt.

     Die Erläuterungen Georgs reichten aus, zu den genannten Hotels zu finden. Moritz erklärte Katja behutsam die Gründe und Vorteile. Nun kapierte auch sie, daß es wohl besser wäre, in einer Unterkunft zu nächtigen, als den Versuch zu wagen, außerhalb und irgendwo eine Stelle zum Zelten zu finden.

 

     Vom Parkplatz aus am ‚Giardino Papadopoli’ vorbei gäbe es auf der ‚Fondamenta San Simeon Piccolo’ genügend Hotels, die auch ihren Preisvorstellungen entsprachen.

     Links der ‚Fialenbrücke’ im Stadtteil ‚Cannaregio’ direkt am ‚Alten Ghetto’ entschieden sie sich: ‚Hotel Marte’, 94 Euro das Doppelzimmer mit Klimaanlage, Kühlschrank, Fernseher, Bad mit Dusche, Bidet und einem installierten Fön. Es war das günstigste, das sie finden konnten. Sie nahmen Quartier, packten das Nötigste aus und legten sich nach dieser langen Reise verdient zur Ruhe..

 

 

     Die Glocken einer Kathedrale erklangen wie die blechernen Sequenzen aus einer anderen Zeit. Unten vom Kanal her tönte durch das geöffnete Fenster das geschäftige Treiben der Verkäufer und Vorbeieilenden, das Lärmen der Möwen und das spülende Geräusch des ‚Canale di Cannaregio’.

 

     Aus dem Schlaftaumel erwacht, dauerte es einen Moment sich wieder zu finden und das bestätigte Gefühl wirken zu lassen, daß sie hier in einem Bett in Venedig lagen. Moritz versuchte diese Situation für sich zu nutzen. Er kramte seinen MP3-Player heraus, schloß ihn an eine kleine Box und ließ dieses Lied erklingen, welches schon auf der Fahrt von Innsbruck nach Venedig so ins Herz griff, passend diesen Moment ausfüllte. Und wieder hielten sie sich, küßten sich und waren eins mit der Welt, mit Venedig..

 

     Es war vierzehn Uhr, der Himmel blau, die Sonne strahlte und wirkte überhaupt nicht, als wolle sie im Oktober schon den Herbst grüßen. Auch Katja strahlte, aber sie tat es schon heute früh um fünf, als die Sonne dazu noch nicht in der Lage war. Die Rückbesinnung veranschaulichte Moritz noch einmal diesen Morgen in Venedig:

Da fuhren Kähne an eine sogenannte ‚Actv’, eine Art Haltestelle für die „Wasser-Busse“. Dort stieg dann eine Unmenge Venezianer zu und tat sehr geschäftig. Sie lasen Zeitung, plauderten miteinander, schauten auf die Uhr - fuhren einfach zur Arbeit. Andere, die es sich leisten konnten, nahmen ein Taxi. Das fuhr auch durch den Kanal.

 

     Neben der Haltestelle stand ein Fischverkäufer, verschnitt seinen frischen Fisch und warf die Reste in die See. Kreischende Möwen stürzten sich wie Geier auf diesen Schmaus. Gegenüber auf der anderen „Straßen“-Seite joggte ein junger Mann vorbei, als wäre es das Normalste der Welt. Vielleicht war es aber auch das ‚Normalste der Welt’. Nur hat man als Fremder dafür eben ein anderes Auge. Und vielleicht schaute Venedig auch fragend auf Katja und Moritz: „Was treibt so zwei junge Weltenbummler ausgerechnet hierher?“

 

     Es war ihr erste Tag in Venedig. Was konnte man nicht besseres tun, als dieses neue Terrain erst einmal auszukundschaften, bis man sich sicher genug fühlt und glaubt, im Umkreis nun alles zu kennen. Zuvor noch eine Dusche, einen Instantkaffee, verrührt mit dem ungekochten Wasser aus der Leitung, einer Zigarette, einem Blick aus dem Fenster. Was noch nicht seit der Ankunft ausgepackt wurde, lag nun griffbereit im Zimmer verstreut. Beide nahmen eine besondere Haltung zum Thema Ordnung ein, gelöst, formlos, unzeremoniell. Nicht viel Hast in die Gestaltung einfließen lassend, war es früher Abend als sie endlich den ersten Schritt vor die Tür setzten.


     Es muß einem Reisebericht gleichkommen, will man nüchtern über Venedig schreiben. Er würde dennoch klingen wie der Versuch, das Ausmaß des Sternenhimmels mit all seinen unüberschaubar vielen Planeten und Konstellationen darzustellen.


     Jedes Haus scheint hier seine eigene Geschichte zu haben, jede Gasse ein Name, der von der vielgestaltigen Geschäftigkeit des Venedigs sprach: Gasse der Seifenfabrikanten, Gasse des Weisen, des Schmiedes, Ofengasse.. An den Häusermauern wiesen kleine Schilder auf den geschichtlichen Hintergrund hin, oder zeigte nur die Richtung an. Wie geht es zur Rialtobrücke, in welcher Richtung zum Markusplatz?

 

     Man stolperte durch enge, lauschige Gassen, die wirkten als hätten sie in ihrer Aufmachung das letzte Jahrhundert verpaßt. Der Putz bröckelte von den grauen Fassaden in den Höfen, Klammerkörbe schaukelten an den Wäscheleinen der Fenster im Wind, Müll der schon lange abgeholt werden sollte, stapelte sich neben den Hintertüren schwermütig dekadent.

 

     Die Gassen mit ihren den Himmel wiederspiegelnden Wasserstraßen, umherschiffenden Gondeln bürgten eine Idylle, die man nur auf einem kleinen Gemälde vielleicht so wieder fühlen kann. Ein Bild also, daß eine traute, anheimelnde Betrachtung schon voraussetzt.

 

 

     Über die Brücke des Rio di San Polo, durch die Bernardo-Gasse zum Campo San Polo. Ein Platz, der gar nicht den Stil inne hatte, als würde er zu Venedig gehören.

Kein Blick auf irgendeinen Kanal, keine Brücke. Hier spielten Kinder, hier saß die Jugend, hier trafen sich die Venezianer. Ein Ort der Flucht für den Einheimischen vor dem Tourismustrubel.

 

     In irgendeinem Kiosk kauften sie sich Wein, lieblichen roten, trockenen roten, jeder nach seiner Fasson. Dann links ab zur Rialtobrücke, am Stadtteil Castello vorbei, über den Markusplatz, der am Abend weniger das typische Touristenbild zeigte, keine Tauben, keine Buden, der Platz war wie lehrgefegt. An einem Restaurant spielte ein Pianist auf einem Flügel. Sie setzten sich auf eine Bank am Canale di San Marco mit Blick auf die Insel von San Giorgio Maggiore. Gondeln schaukelten im Wellengang, Möwen feixten am Ufer, Katja und Moritz tranken Wein aus Zahnputzbechern und blickten in die strömende Flut.

     Es war bestimmt schon nach elf Uhr abends, als das Wasser der Kanäle über das Ufer stieg. Ein Bild welches für den Venezianer einfach nur dazugehörte, für den Urlauber jedoch ein Stück Romantik bot, nun über die Holzstege durch die Stadt zu balancieren.

 

     Katja und Moritz zogen sich die Schuhe aus und liefen neben den Holzstegen. Ein bißchen Provokation, ein bißchen Kind sein, ein bißchen aber auch sich die Freiheit zu nehmen, aus den verklemmten Strukturen der „zivilisierten“ Welt auszubrechen.

     „Weißt du eigentlich, wie wir zum Hotel zurück kommen?“ Katja zuckte mit den Schultern. Moritz machte sich Gedanken, ergab sich dann aber doch seinem Los, nun auf ewig in Venedig festzusitzen. Keine Idee, wo sie wohnen, kein Gepäck dabei, verloren und verirrt in einem Labyrinth aus Gassen und Kanälen.

 

     Die Ironie des Schicksals traf sie diesmal selber. Sie lachten darüber, setzten sich an eine Häuserwand und Moritz gab mit seinem Hut auf die Straße gestellt, den Beginn seines Lebens als Tippelbruder vor. Katja war mit dabei, ihr war es Wurst..

     Irgendwann siegt doch immer die Vernunft. Sie wußten ja noch den Namen ihres Hotels. Also erhoben sie sich aus ihrer Ergebenheit, fragten sich durch, erinnerten sich, dies und jenes schon auf dem Weg hinzu gesehen zu haben, bis sie die ‚Fialenbrücke’ erblickend dem ‚Hotel Marte’ wieder gegenüber standen.

 

     An dem Mittwoch nachmittag, dem zweiten Tag ihres Venedigaufenthaltes gingen sie zum Markusplatz. Es war wieder ein schöner sonniger Tag und man glaubte den Platz so erleben zu können, wie er auch wirklich geschildert wird voller Tauben und Touristen. Verkäufer mit kleinen Wagen verkauften Mais in Tüten, Futter für Tauben als Attraktion fürs Auge. Ein Bild für die Götter: Wenn man ein paar Körner auf die Hand nahm, stürzte sich eine Schar dieser Vögel darauf, als wolle sie die ganze Hand gleich mit verspeisen. Sie waren zahm wie Haustiere, die einen auch auf Schulter und Kopf sitzend ein Stück des Weges begleiten. So etwas gibt es nirgendwo anders. Auch ein kleines Phänomen dieser Stadt. Selbst Katja, die den Urlaub in Venedig mit der Bemerkung einleitete, sie fände, Tauben seien Dreckviecher, genierte sich nicht, eine Taube auf ihrer Schulter spazieren zu tragen.

 

 

     Wie geahnt, wie gewohnt, wie passend zu Venedig und den beiden, schloß der Abend mit Wein. In einem Laden in dem große Braukesseln standen, bekam man den in anderthalb Literflaschen frisch abgefüllt. Zwei davon gekauft und zurück auf den Markusplatz.

Dort war es mittlerweile etwas stiller geworden, und die Menschen saßen Ruhe findend auf den hölzernen Stegen und unterhielten sich. Blumenhändler gaben den Liebespaaren die Chance ihre Zuneigung zum Partner mit dem Kauf einer Blume auszudrücken. Wenn sie Venedig wieder verlassen, verwelkt diese mitsamt der verblassenden Erinnerung und man kauft sich zuhause im Geschäft um die Ecke eine identische Blume.

 

 

     Katja und Moritz betranken sich mit lieblichem roten und trockenem roten Wein, trieben ihren Schabernack mit den geschäftigen Blumenverkäufern, asiatischen Touristen und sonstigen auffallenden Persönlichkeiten, die ihr Verhalten einfach provozierten.

 

 

     Und als das Wasser wie jeden Abend den Markusplatz überströmte, zogen sich die beiden ihre Schuhe aus und rannten heiter durch die riesigen Pfützen.

Der Tag verglühte wie jeden Abend im Westen - irgendwo hinter den Kanälen Venedigs. Sie wußten beide, daß man sich morgen verabschieden muß von dem gelebten Gefühl, durch diese Stadt zu gehen..

 

 

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Verweise

 

 

Moritz Rabe | Blog »

- dies & das & jenes

 

Moritz Rabe | facebook »

- das aktuelle Tagesniveau

 

Vagapedia »

- die freie Enzyklopädie

des kultivierten Landtreichers

 

Die Lumpenbrüder »

- die rüpelhafte Alternative

gegen Spießertum und Langeweile

 

 

 

 

 

Auf grauem Asphalt über die verschlungenen Bergstraßen der Pyrenäen nach Euskal Herrira, auf schmalen Wegen nebliger Sicht durch die Finnmark bis hoch ans Eismeer, nachts auf den staubigen Fernstraßen von Innsbruck über Südtirol nach Italien - ich bin sie getrampt, die 1000 Meilen von der Heimat entfernt -den Weg als Ziel- als ein 'König der Landstraße' !

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Der Bart der Fahrt

(Gedanken in der Fremde, am Feuer,

unter fernen Sternen)

 

  • Wo gestern von uns noch keiner stand, werde ich heute schon stehen. Morgen sollt Ihr Euch erinnern!
  • "Wissen Sie, andere leisten sich ein Automobil, eine Segeljacht, ein schickes Haus... Ich leiste mir die Freiheit und einen wunderschönen Tag. Das gibt es aber auch nicht umsonst!"
  • Habe mich gestern zu einem Amerikaner und einen Deutschen im Lokal an den Tisch gesetzt. Sie sprachen ueber die Vorzüge der jew. Nation des Gegenübers. Der eine liebte gönnerisch Deutschland, der andere darauf die USA. Ich sagte abschliessend: "Und ich liebe die Freiheit!"
  • Ich habe Augen&Ohren, ich habe Appetit, ich habe meinen Verstand. Das ist soviel! Das sind entscheidende Grundlagen des zufriedenen Lebens. Prozentual gesehen der größte Anteil dessen. Wie klein ist dann im Vergleich die Jagd nach all den bürgerlichen Reichtümern noch?
  • Ihr Deutschen dürft den Hitler nicht nur vom Namen her verdrängen. Den müßt ihr auch innerlich bekämpfen!
  • Habe heute auf einer Cafèterasse ein 3-4jähriges Mædel gesehen, die hoch empört von einer Statue aus zu ihren Eltern schritt und schimpfte, dass die Statue ein böser Mann sei und ganz viele Menschen getötet habe. (Das war eine Woche nach dem Anschlag in Oslo.)
  • Die "zivilisierte" Welt erlebt dann ihren neuen Fortschritt, wenn sie sich traut, wieder einen Schritt zurueck zu treten. (Luxus fuer alle, anstatt Fortschritt fuer Zivilisierte!)

Auf Diamanten wächst nichts.

Auf Mist aber wachsen Blumen!