Sie gaben sich etwas schwerfällig, diesen Morgen aus den Federn zu kommen. Der Schädel schien eine Porzellankugel zu sein, die zu zerplatzen drohte. Das Verständnis dafür, heute schon abzufahren, war noch nicht ausgereift. Eine handvoll Depression mischte sich der Stimmung bei. Es waren die letzten Momente im gelebten Venedig, die verbliebenen Stunden melancholischer, heißblütiger Stimmung, denen man noch soviel Erlebnis abringen wollte und mußte, weil sie schöner, harmonischer und extravaganter im gewöhnlichen Alltag nicht realisierbar gewesen wären.
Sie verließen ihr Hotelzimmer. Bedacht, zum letzten Mal hier zu sein, schritten sie über die Herrlichkeit der Rialto-Brücke, das obligatorische Ziel jedes Besuchers in Venedig, weiter am linken Ufer des Canal Grande entlang, vorbei am Fischmarkt, am Palast der Königin, schlängelten sich durch den veneto-byzantinischen Torbogen des ’Fondaco die Turchi’, gingen auf die andere Uferseite und setzten sich in die barockene Einfassung rechts des Portals der ‚Barfüßerkirche’. Hier wollten sie zum Abschied noch einmall richtig auf die Kacke hauen, die Mundharmonika auspacken, ein siebenstrophiges deutsches Volkslied singen, den Bettelhut vor sich liegend, die Finanzierung der Rückfahrt zusammen schnorren.
Zwei Carabinieri unterbrachen die einstündige Klingelei auf der Maulorgel des Strabanzers, der Hut-Hausiererei dieser bündischen Vaganten. Moritz packte sein Instrument wieder ein. Katja zählte die Gage. Drei Euro war der magere finanzielle Ausgleich für ihre Mühe. Aber es kann ihnen später auch keiner nachsagen, sie hätten es nicht wenigstens versucht. Und wer, bitte schön, will nicht einmal etwas Verrücktes in Venedig erlebt und dort die Sau rausgelassen haben.
Nicht nur Venedig hinterließ Eindrücke in ihnen, auch sie hinterließen von sich Eindrücke in dieser Stadt, in den Köpfen der Touristen, in den Gesprächen der Urlaubsauswertungen und der Rückschau, in einer Randnotiz, einem kurzen Gedanken über sie, irgendwo jetzt auf der Welt. Das ist auch ein kleiner Verdienst..
Dann zogen sie weiter, ließen das materielle Venedig hinter sich, Richtung Autobahn, Richtung Heimat, ihre Stoffsammlung, ihre neu gespeicherten Informationen und Prägungen in die eigene Mental-Bibliothek zu Hause einzuordnen.
Es war schon 23 Uhr, als sie an einer Raststätte bei Brixen in Südtirol von einem deutschsprachigen Oberitaliener abgesetzt wurden. Für heute sollte es genug sein. Den Rest - die noch verbleibenden sechshundertundfünfzig Kilometer der Rückfahrt werden sie morgen antreten. Ein großer Parkplatz ließ auch in der Früh eine hohe Frequentierung schlußfolgern, was versprach, schnell weiterzukommen und am Abend schon in Jena zu sein.
Durch kniehoch gewachsenes Gras am Fahrbahnrand der ‚Autostrada’ streunten zwei wilde Bündische, sich eine Gasse bahnend, um die blaue Blume der unberührten Natur zu finden. Dort, wo auf immer sie blüht, wollten sie ihr Lager aufschlagen - ein behelfsmäßiges Zelt und eine Feuerstelle, die ihnen nur für diesen Augenblick der Wandervogel-Romantik in den Bergen Südtirols den Schein einer heilen Welt gaben.
Aus allen Resten, die ihnen auf ihrer Fahrt noch geblieben waren, einer Stange Salami, Pilzen, Gemüse, Kartoffeln sollte es ihr letztes Mal werden. Speisend aus dem reinen, nackten Erdenschoß, wie Könige der Welt, die es sich leisten konnten, so zu sein.
Die Natur war ihnen ein Veteran: Gib uns das wieder, was uns die spießigen Vorschriften der Zeit, das gestandene ‚Wollen müssen’ in der Stadt, die Zwänge einer künstlichen Prothesenwelt genommen haben! Gib uns zurück, was uns eigen ist! Gib uns dies Stück Natur - Erde - Feuer - Freiheit, gib uns deinen Frieden zurück! Der lodernde, goldene Schein fügt sich dem Wind, erleuchtet seine gewählte Richtung, folgt wie der hörige Wolfsschwanz dem wilden Tier. Wie dieser Wolfsschwanz, wie der ‚Coda di lupo’ seiner eigentlichen Bestimmung zu folgen, folge ich den Wünschen und Instinkten, folge ich meiner inneren Stimme! ..nur diese eine Nacht in meinen Gedanken. Da war wieder dieses Lied, welches den Gefühlen seinen besonderen Farbton gab. Eingebettet in den Rausch der grünen Wälder, des flüsternden blauen Baches in der Talsohle, der knisternden roten Glut im Feuer, der grauen, bedrohlich brummenden Fahrbahn oben von der Autobahn.
Eine Nacht in einem Schlafsack, unter italienischem Himmel, das Wissen, morgen schon wieder in der Heimat zu sein. Ein wenig Trauer dabei, ein wenig das Gefühl der Freude, nun von einem Urlaub in Venedig reden zu können..
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